Ukraine-Krieg: Leben wir jetzt wirklich in einer anderen Welt?

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„Wir sind heute in einer anderen Welt aufgewacht.“, sagte Außenministerin Annalena Baerbock am Morgen nach dem Angriff russischer Truppen auf die Ukraine (BILD Live 2022:00:00:07). Seit russische Truppen auf Befehl von Wladimir Putin die Souveränität ihres Nachbarlandes Ukraine ignoriert und mit Panzern und Raketen eingerückt sind, findet in Europa ein offener Angriffskrieg mit ungewissem Ausgang statt. Die ganze Welt schaut fassungslos, empört und traurig zu. Wie konnte so etwas passieren? Scheinbar über Nacht bricht die schöne neue Welt, in der Wohlstand und Frieden eine Selbstverständlichkeit zu sein schienen, wie ein Kartenhaus zusammen. 

Aber ist es wirklich eine andere Welt, in der wir in Europa jetzt leben? Mir scheint, wir sind vielmehr aufgewacht aus einem schönen Traum. Dem Traum, dass wir durch Fortschritt, durch Wissen, durch Vernunft das Böse aus der Welt schaffen können. Aber so einfach geht das anscheinend nicht. Wodurch kann das Böse dann aus der Welt geschafft werden? Was sagt die Bibel dazu?

„The new problem of evil“

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Die Ukraine-Krise ist ein aktuelles Beispiel dafür, was N.T. Wright „the new problem of evil“ (2014:109) nennt. Vor allem im Westen führen wir ein so gutes Leben, dass wir das Leid und das Böse nur noch aus der Entfernung wahrnehmen. Das Böse scheint überwunden, wir scheinen die Lösung gefunden zu haben. Wright führt das auf den Fortschrittsglauben zurück, der davon ausgeht, dass die Welt immer besser wird. Auch die großen Tragödien des 20. Jahrhunderts trübten diesen Glauben an die bessere Welt scheinbar nur wenig. Im Westen gehen wir davon aus, dass die Probleme in der Welt durch Technologie, Bildung, oder die Entwicklung von stabilen, demokratischen (sprich: westlichen) Staats- und Gesellschaftsstrukturen gelöst werden können (Wright 2014:112). Wenn das Böse dann doch mal vor der Haustür steht, wie jetzt in Form des Krieges in der Ukraine, sind wir überrascht, geschockt und empört. Wir haben einfach nicht mehr damit gerechnet. 

Gut und Böse in der Bibel

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Die Bibel dagegen ist keineswegs überrascht vom Bösen in der Welt, sondern nimmt es als eine von Anfang an gegebene, bittere Tatsache an. Die Schöpfungserzählung und die folgenden Kapitel in Genesis 1-11 sind vor allem eine Antwort auf die Frage, warum das Leben so ist, wie es ist (Kiefer 2018:405). Es wird deutlich: das Leben ist nicht schwarz oder weiß. Die Geschichte der Menschheit wird von Anfang an durch das Böse, die Sünde mitbestimmt (Härle 1995:476). Die Menschen sind nicht gut oder böse. Sie sind zu beidem fähig. Sie stehen in einer ständigen Spannung zwischen Verfehlung und Erfüllung ihrer Bestimmung Verwalter und Ebenbilder Gottes zu sein (Kiefer 2018:435, Ott 2019:49, Härle 1995:477ff). Jeder Held hat in der Bibel auch eine dunkle Seite, ist mal getrieben von Eigeninteressen, Gier, Stolz, Versagensangst, Misstrauen. Im Alten Testament finden sich vier Ursachen für das Böse: das eigene Tun, andere Menschen, fremde, überirdische Mächte und manchmal nutzt es auch Gott selbst für seine Absichten (Kiefer 2018:389). Während der Mensch also zum einen für das Böse selbst verantwortlich sein kann, kann er gleichzeitig auch Spielball von Mächten werden, die stärker sind als er selbst. Gott bleibt in der Bibel dabei der über allem stehende Souverän. Er hat die Chaosmächte in die Schranken gewiesen, sie sind ihm unterstellt, jedoch noch nicht vernichtet. Die Welt hofft darauf, dass Gott diese Mächte unter Kontrolle hält (Kiefer 2018:390). Die Antwort auf die Frage, warum es das Böse gibt, bleibt jedoch nur unscharf beantwortet. Es gehört scheinbar zur Realität der Schöpfung dazu. Viel wichtiger ist den Autoren der Bibel, wer die Macht über das Böse hat – heute und in Zukunft (Kiefer 2018:407, McGrath 2013:317). Und ihre Antwort ist eindeutig.

Hoffnung auf Gott, statt auf Fortschritt

Auch in der Bibel finden wir eine Hoffnung auf die Überwindung des Bösen. Sie hofft jedoch nicht auf den Fortschritt, sondern auf Gott. Im Gegensatz zum heutigen Fortschrittsglauben, sieht die Bibel nicht die Möglichkeit zur Erlösung vom Bösen in der Schöpfung selbst angelegt, sondern außerhalb von ihr (Pöhlmann 2002:172). Die biblischen Schriften sind durchzogen von der Hoffnung und Verheißung, dass es das Handeln Gottes ist, das am Ende das Böse auslöschen wird. 

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Auch das Neue Testament beantwortet die Warum-Frage des Bösen nicht abschließend, aber die Überwindung und der Widerstand gegen das Böse – sowohl im Menschen, als auch in der sichtbaren und unsichtbaren Welt – ist zentraler Bestandteil des Wirkens von Jesus (Ladd 1997:48). Jesus tut das auf erstaunliche Weise, mit der wohl niemand gerechnet hat. Die Heilungen und die Befreiung von Dämonen, die Menschen durch ihn erleben, zeigen, wie die Auslöschung des Bösen aussieht: nicht Gewalt, sondern Gottes Liebe und Allmacht sind es, die letztendlich gegen das Böse gewinnen. Das Kreuz ist schließlich der Ort, an dem das Böse sein wahres hässliches Gesicht zeigt. Durch Lügen, Intrigen, Stolz und Gier der Menschen, aber auch durch übernatürliche Kräfte (den Satan, der in Lk 22,3 von Jesus Freund Judas Besitz ergreift) wird ein Unschuldiger hingerichtet. Und gleichzeitig zeigt Gott seine Souveränität und Solidarität (Wright 2014:120). In Jesu Tod leidet Gott selbst mit. Sein Schmerz über den Zustand der Welt kommt am Kreuz zum Ausdruck (Pöhlmann 2002:171, Härle1995:465). Das Kreuz ist auch genau der Ort, an dem Gott das Böse besiegt – nicht durch Fortschritt, sondern durch sich aufopfernde Liebe (Wright 2014:125). 

Das biblische Weltbild lässt sich also weder vom Bösen überraschen, noch zu einer Einteilung der Menschen in gute und böse verleiten. Damit gibt die Bibel meiner Meinung nach eine realistische Einschätzung der Welt ab. Wir müssen aufwachen aus dem Traum, dass wir Menschen allein es schaffen können, die Welt zu einem besseren Ort zu machen und das Böse zu besiegen. Und wir können nicht einfach die Linien zwischen „uns“ und „den anderen“ ziehen. Der Riss zwischen Gut und Böse verläuft mitten durch uns hindurch und gleichzeitig um uns herum. Am Kreuz wird das deutlich. Der Tod von Jesus war sowohl das Ergebnis politisch-religiöser Spielchen und menschlichen Versagens, als auch von einer bösen Macht, die wider der Welt und Gott steht (Wright 2014:122). In dieser Spannung gilt es zu leben und immer wieder der Stimme Gottes zu folgen, der uns dieses Chaos anscheinend zumutet und uns an die Hand nehmen und durchführen will. Bis zu dem Tag, an dem er alles neu macht und das Böse ein für alle Mal vertreibt. Das ist die Hoffnung in der Bibel und auch meine.

Literatur & Quellen

BILD Live 2022. Nach Angriff: Baerbock kündigt scharfe Maßnahmen gegen Russland an | BILD Live. (Video). Online im Internet: https://www.youtube.com/watch?v=oaOh4ZPaWgY %5BStand 24.03.2021 15:50 Uhr]

Härle, Wilfried 1995. Dogmatik. Berlin: De Gruyter.

Kiefer, Jörn 2018. Gut und Böse: die Anfangslektionen der Hebräischen Bibel. Herders biblische Studien. Freiburg im Breisgau: Herder. 

Ladd, George Eldon 1997. A Theology of the New Testament. Grand Rapids: William B. Eerdmans Publishing.

McGrath, Alister E., Hempelmann Heinzpeter (Hrsg.) 2013. Der Weg der christlichen Theologie. Eine Einführung. 3. und erweiterte Aufl. Gießen: Brunnen Verlag.

Ott, Bernhard 2019.Tänzer und Stolperer. Wenn die Bergpredigt unseren Charakter formt. Cuxhaven, Neufeld-Verlag.

Placher, William C. 1983. A History of Christian Theology. An Introduction. Philadelphia: Westminster Press.

Pöhlmann, Horst Georg 2002. Abriss der Dogmatik. Ein Kompendium. 6. überarbeitete Aufl. Gütersloh: Chr. Kaiser/Gütersloher Verlagshaus.

Wright, N.T. 2014. Surprised by Scripture: Engaging with contemporary issues. London: SPCK.

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